Vermessungen im Dazwischen


Die Plastiken von Astrid Lincke-Zukunft erkunden den Raum mittels eines komplexen Systems aus Linien. Lineare Stäbe aus Holz oder bisweilen auch aus Metall werden zusammengefügt und erzeugen Raumkörper, die durch ein labiles Gleichgewicht gekennzeichnet sind. Kein rechter Winkel, keine Vorzeichnung, sondern Austarieren während des Arbeitens kennzeichnet den Werkprozess. Eins tritt zum anderen, jedes Element ein konstitutives Teil des Ganzen.

Bestimmten früher geschlossene Körper mit einer organischen Anmutung das plastische Werk der Künstlerin, etwa Flügel oder Figuren, so sind es nun Linien, die zu tektonischen Formationen zusammengefügt werden. Statt der Körperhülle offenbaren die Plastiken nun ihre Essenz, ihr Skelett, erinnern bisweilen an mathematische Modelle und Koordinatensysteme oder auch an Bauzeichnungen für dekonstruktivistische Architekturen.

Die Linien der Stabplastiken überkreuzen, überlappen sich, bilden räumliche Zeichnungen und spannen imaginäre Flächen, zu denen das Auge die Zwischenräume verbindet, zwischen sich ein. Raumkörper entstehen, die sich je nach Perspektive verändern und scheinbar neu formieren. Die Arbeiten von Astrid Lincke-Zukunft eröffnen damit wie bei einem Kaleidoskop sich verändernde Blicke auf die Welt.

Bisweilen kommt bei den Stäben eine zweite Farbe hinzu und verstärkt das räumliche Flirren der Plastiken. Zu dieser Eigendynamik der Farben tritt als weiteres Element der Schattenwurf der Stäbe auf die Wand oder den Sockelbereich. Ein subtiles Spiel aus tatsächlicher und imaginierter räumlicher Entfaltung, Durchmessung, in das die Betrachtenden hier eingebunden werden. Wir haben es gelernt, uns anhand eines Koordinatensystems aus Linien in der Welt zu orientieren. Die Horizontlinie und die vor ihr befindlichen
vertikalen Linien, etwa eines Baumes, verorten uns in der Welt. Die Plastiken von Astrid Lincke-Zukunft dagegen verunsichern, zwingen zur Neuorientierung.

Christian Kaufmann, Frankfurt am Main